Schuldig, aber frei
/in Blog /by Kerstin KrausLesedauer: ca. 5 Minuten

Schuldig, aber frei: Ein Systemversagen mit gesellschaftlichem Preis
TW: Sexualisierte Gewalt
Belgien, April 2025: ein Gynäkologie-Student vergewaltigt nachweislich eine Studentin, die Richterin spricht ihn frei. Der Grund: der Täter sei doch noch „jung und begabt“.
Deutschland, Januar 2025: ein Feuerwehrmann vergewaltigt eine schlafende Frau. Die Richterin spricht ein mildes Urteil in Form einer Bewährungsstrafe aus, damit der Täter seinen Beamtenstatus nicht verliert.
Finnland, April 2025: drei Männer zerren eine beinah bewusstlose Teenagerin aus einem Krankenhaus und vergewaltigen sie, filmen es. Alle Anklagen werden fallen gelassen.
Bei diesen Schlagzeilen fühle ich vor allem eins: Fassungslosigkeit. Wie kann es sein, dass wir das Jahr 2025 schreiben, und unsere Gesellschaft immer noch Täter anstatt deren Opfer, uns Frauen, schützt und somit auch potenziell weitere Opfer? Haben wir in puncto Gleichberechtigung nicht schon so viel erreicht? Wieso passiert denn nichts?
Vergewaltigung hat (keine) Folgen
Die oben genannten Berichterstattungen sind keine Einzelfälle. Bei der Recherche zu diesem Artikel tauchen immer mehr freigesprochene Vergewaltigungsanklagen in meinen Suchergebnissen auf. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Vergewaltiger auf freiem Fuß sind und unter uns leben. Noch schlimmer: Vergewaltiger werden in Schutz genommen.
In mehreren Zeitungsartikeln, die ich vorbereitend gelesen habe, wird darauf verwiesen, dass das Ausmaß des Urteils auf das Leben des Täters mitberücksichtigt werden muss. Das inkludiert auch berufliche Nachteile. Es klingt wie eine Ausrede, ein Schönreden des Urteils, den Täter mitzudenken. Aber was ist mit dem Leben der Frau, das ab dem Zeitpunkt der Tat nicht mehr dasselbe ist? Was ist mit den Auswirkungen auf ihr Leben?
Auch haben sich der Täter im Fall von Belgien und Deutschland bei dem Opfer „entschuldigt“ und Schmerzensgeld gezahlt. Ja, und weiter? Das macht die Tat nicht rückgängig und entschuldigt KEINE sexuelle Gewalt. Vor allem gleicht es das Trauma der Frauen nicht aus.
Die SZ beschreibt Vergewaltigung als das „perfekte Verbrechen“ und schreibt weiter, dass „bei kaum einem Delikt ein Täter so darauf vertrauen kann, straffrei auszugehen wie bei sexualisierter Gewalt“. Wie kann das in europäischen Rechtsstaaten sein?
Laut einem parlamentarischen Dokument wurden in Österreich 2021 von 900 angezeigten Vergewaltigungen nur 128 verurteilt und dabei oft mildere Urteile vergeben. Dabei wird nur eine geringe Anzahl der Vergewaltigungen (5-15%) überhaupt erst angezeigt. Die SZ berichtet, dass viele dieser Anzeigen schon vor Gericht scheitern und eingestellt werden – etwa nur ein Drittel schafft es letztendlich vor Gericht. Davon werden in Deutschland letztendlich nur 8.4% verurteilt (Studie von 2014). Obwohl immer mehr Frauen damit an die Öffentlichkeit gehen und Vergewaltigungen anzeigen, sinkt seit Jahren die Verurteilungsrate sexueller Verbrechen. Das ist fatal, da das Verhalten der Gerichte dazu neigt, Opfer zu entmutigen und Täter wenig abzuschrecken. Was haben sie schon zu verlieren?
Ein weiteres Problem sind oft fehlende Beweise: selten gibt es Zeugen oder Spuren, die auf ein Sexualverbrechen hinweisen. Meist ist es nur die Aussage der Frau. Aber wie oben beschrieben werden Urteile oft ausgelassen, selbst wenn es Beweise gibt (und obwohl in der ersten beiden Fällen eine Frau als Richterin diente!). Beweise sowie ein solidarisches Gegenüber sind also keine Garantie für eine Verurteilung.
Victim-Blaming und Vergewaltigungsmythen
Jede Frau kennt mindestens eine Frau, die schon mal sexualisierte Gewalt erlebt hat. Aber keiner der Männer kennt einen Täter.
Diesen Spruch kennen sicherlich die meisten. Ich kann dem nur zustimmen. Also wieso passiert weiterhin nichts?
Das Problem beginnt schon viel früher. Sexueller Missbrauch ist weiterhin ein Tabuthema, das in unserer Gesellschaft nicht groß diskutiert wird. Es belastet die Frauen mit Scham und versucht, ihnen die Schuld der Tat zuzuschieben. Dabei hat das Opfer NIE Schuld an einer Vergewaltigung. Die Verantwortung für eine Tat liegt einzig und allein beim Täter. Aber die Täter werden weiterhin geschützt. Immer noch werden Frauen von Polizist:innen gefragt, was sie bei der Tat anhatten. Als ob das eine Rolle spielen würde. Prinzipiell wird Frauen schlichtweg nicht geglaubt, was katastrophale Auswirkungen hat. Es wird ihnen oft unterstellt, die Karriere des Täters ruinieren zu wollen, Geld oder Aufmerksamkeit zu wollen. Dabei erfahren Frauen, die mit diesen Fällen an die Öffentlichkeit gehen, alles andere als positive Aufmerksamkeit – sie werden regelrecht online und offline degradiert.
Und dann gibt es noch die Anschuldigung der Falschaussage, was immer als ein großes Argument für Täterschutz gegeben wird. Dabei beläuft sich die Zahl der Falschaussagen auf lediglich 3%. Die Anzahl der freilaufenden Vergewaltiger auf mindestens 92%. Warum geht man also so häufig vom Unwahrscheinlichsten aus?
In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?
Ich dachte wirklich, dass #metoo sowie der Fall von Gisele Pelicot etwas verändern würden, vor allem in unseren Gerichtssälen. Das Gegenteil scheint der Fall: je mehr Frauen darüber laut werden, desto mehr lese ich von solchen absurden Freisprüchen trotz Beweisen. Ich fühle mich machtlos, wütend, und auch macht es mir Angst. Angst, dass es mir passieren wird, denn Gewalt an Frauen ist allgegenwärtig. Und was würde ich tun? Wer wird mich schützen, wenn es das Gesetz nicht tut?
Wir sind alle Vorbilder für unsere Mitmenschen, ob wir es wollen oder nicht. Unser Verhalten beeinflusst andere, und ich möchte mich richtig verhalten. Ich will in einer Gesellschaft leben, die Opfern glaubt, sie schützt und ernst nimmt. Sexualisierte Gewalt zu verharmlosen und weiterhin milde Urteile zu fällen, ermutigt Täter und schüchtert Frauen ein. So kommen wir nicht weiter.
Zeigt endlich Solidarität mit den Opfern sexualisierter Gewalt! Glaubt ihnen. Ich glaube euch. Und ich werde es immer tun. Denn mit diesem Thema laut zu werden erfordert unendlichen Mut, den ich absolut bewundere. Und dafür verdient ihr meinen Respekt und meine Solidarität. Gemeinsam können wir etwas bewegen.
Die Staatsanwaltschaft in Belgien sowie Deutschland hat übrigens nach dem „Urteil“ Berufung eingelegt. Es bleibt uns nur zu hoffen, dass im zweiten Verfahren in beiden Fällen ein faires Urteil ausgesprochen wird. Es ist die Hoffnung, die bleibt.
Weitere Quellen und Materialien:
Der Standard Belgien: Richter:innen sehen von Freiheitsstrafe wegen Vergewaltigung ab, weil der Mann “begabt” sei
Stern Mildes Urteil nach Vergewaltigung
Flandern Info Nicht bestrafte Vergewaltigung
Reddit Drei Männer zerrten ein Mädchen aus einem Krankenhaus in Finnland und vergewaltigten sie
Anfrage Österreichisches Parlament Einstellungen und Freisprüche bei Vergewaltigung
Süddeutsche Zeitung Das perfekte Verbrechen
Frauen gegen Gewalte Kampagne „Vergewaltigung Verurteilen“
Magazin Amazed Warum wir endlich anfangen müssen, Betroffenen von sexualisierter Gewalt zuzuhören!