Natalija Eder im Interview

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„Dinge, die unmöglich erscheinen, werden möglich

Paralympics-Speerwerferin Natalja Eder im Interview

Natalija Eder holte im Vorjahr mit dem Speer paralympische Bronze. Sorority hat die Athletin gefragt, wie es um den Behindertensport in Österreich steht und wie man als Leistungssportlerin damit umgeht, wenn das Augenlicht schwindet.

37,22 Meter. Das entspricht ungefähr der Höhe eines zehnstöckigen Hochhauses oder der Christusstatue in Rio de Janeiro. So weit schmetterte Natalija Eder im Zuge der Paralympics 2024 in Paris ihren Speer. Der Wurf brachte der Steirerin vor rund 80.000 Zuschauer:innen im Stade de France eine Bronzemedaille in der Kategorie F13 für Athletinnen mit einer Sehbehinderung ein. Damit gewann die 44-Jährige nach 2012 und 2016 zum dritten Mal einen Stockerlplatz im Speerwurf bei den Paralympischen Spielen. Es war nervenaufreibend knapp: Der sechste und letzte Wurf sicherte Eder schließlich den dritten Platz.

Als du zehn Jahre alt warst, hast du rasant an Sehkraft verloren. Wie bist du damit umgegangen? Wann hast du begonnen, Fünfkampf zu trainieren?

Als ich fünfzehn Jahre alt war, trat nach einer Verschlechterung eine Stagnation ein. Ich hatte als Kind kein großes Problem damit. Ich glaube, ich habe die Konsequenzen nicht verstanden und mich nicht damit beschäftigt, dass ich irgendwann komplett erblinden könnte. Das einzige Problem waren die anderen Kinder in der Schule. Sie waren sehr gemein. Ich ging in eine Schule mit sehenden Kindern und das war wirklich anstrengend.

Ich wechselte anschließend in eine Schule für sehbehinderte Kinder. Das waren super Jahre. Ich habe verstanden, dass es andere Kinder mit den gleichen Problemen gibt. In der Schule hielt dann eine paralympische Athletin einen Vortrag. Sie erzählte über sich und die Leichtathletik und sagte: „Traut euch, kommt zu mir ins Training!“ Ich probierte es aus, denn ich hatte nichts zu verlieren. So begann ich, Fünfkampf in Belarus zu trainieren. Je älter ich werde, umso klarer wird mir, dass ich damals als junges Mädchen die richtige Entscheidung getroffen habe. Es ist wirklich wichtig für sehbehinderte Menschen, Sport zu machen. Du bekommst mehr Selbstvertrauen, du fühlst dich wohl und stark. Dinge, die unmöglich erscheinen, werden nach vielen Wiederholungen doch möglich. Nicht aufgeben, kämpfen! Nur mit Willen und Kampfgeist kann man viel erreichen.

Woher nimmst du diese Motivation?

Am meisten motivieren mich die jungen Athlet:innen bei Wettkämpfen. Denn natürlich höre ich manchmal, dass ich schon zu alt sei, doch schon so viel erreicht hätte, was ich denn noch wolle. Aber wenn ich es im Herzen immer noch gerne mache und mein Körper mitspielt, sehe ich kein Problem, weiterzumachen. Warum sollte ich nicht? Bei Wettkämpfen motiviert mich das noch mehr. Da sehe ich, was ich noch alles kann. Klar, es wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Ich kann nicht mehr wie eine Zwanzigjährige hüpfen, aber ich habe eine sehr positive Trainerin, und sie sieht das genauso. Das motiviert: Es gibt noch einen Menschen, der an mich glaubt.

 

Man hört, dass dich deine Familie und Freund:innen nicht nach Paris zu den Paralympics begleiten durften?

Das war nicht nur in Paris so, das ist bei allen Paralympischen Spielen so. Ich muss mich auf mich und meinen Wettkampf konzentrieren. Ich habe hart trainiert, nur für diesen Moment. Wenn ich wüsste, dass meine Verwandten und Bekannten gekommen wären, hätte ich das Gefühl, dass ich mir Zeit für sie nehmen müsste, ihnen etwa das Olympische Dorf zeigen müsste. Und das bedeutet für mich Stress. Ich möchte mich nur auf den Sport konzentrieren, den Ablauf im Kopf durchgehen und mich nicht ablenken lassen.

Was war das für ein Gefühl, in Paris bei den Paralympics den dritten Platz zu ergattern? Immerhin hattest du rund 80.000 Zuschauer:innen.

Die Laute, die Schreie sind anstrengend für uns Sehbehinderte. Es ist schwierig, bei sich zu bleiben, weil so viel Ablenkung da ist. Genau da zahlt sich das Mentaltraining aus. Du versuchst, alles auszublenden. Ich dachte mir: „Wann passiert denn so etwas? Das ganze Stadion ist voll, und ich stehe hier im Mittelpunkt? Das werde ich wohl nicht noch einmal erleben.“

Findest du, dass Athletinnen und Athleten mit zweierlei Maß gemessen werden?

Ich habe mich auch schon bei unserem Behindertenverband beschwert. Ich fühle mich als Kaderathletin alleingelassen. Behindertensport wird nicht auf die Weise belohnt wie andere Sportarten. Wir bekommen zum Beispiel keine Prämien für die EM oder WM. Damit kann ich mir keine:n Manager:in finanzieren. Jede:r Athlet:in muss selbst Sponsor:innen suchen. Nur: Das kostet sehr viel Energie und Zeit.

Das ist das Traurige in Österreich, in der Leichtathletik wie auch in anderen Sportarten. Ich bin in Belarus geboren und aufgewachsen und habe dort mit dem Sport begonnen. Ein:e erfolgreiche:r Athlet:in erhält dort eine Prämie. […] In Österreich sitzt in den Köpfen der Männer die Vorstellung, dass sie die Herren wären, die die Macht hätten. Viele Männer ertragen starke Frauen nicht. Aber es gibt einen Mann, der Frauen im Sport stark und erfolgreich sehen will und sie unterstützt. Das ist Gregor Högler, er arbeitet bei Sport Austria. [Anmerkung: Gregor Högler ist ein österreichischer Leichtathletik-Trainer und ehemaliger Speerwerfer.]

Ich glaube, wir können das nicht schönreden. In jeder Sportart sehe ich viel weniger Frauen als Männer. Das hängt auch damit zusammen, dass Haushalt und das ganze Rundherum zu 80 Prozent auf den Schultern der Frauen lasten. Es ist heute zwar viel besser als früher. Der Mann kann mittlerweile einen Staubsauger in die Hand nehmen oder kochen, aber die Hauptlast trägt dennoch die Frau. Viele sagen dann: „Puh, jetzt noch Sport machen? Das ist mir zu viel.“ Und ich habe das Gefühl, dass sich Frauen dauerhaft beweisen müssen.

Gibt es noch etwas, das dir wichtig ist?

Ich würde mir wünschen, dass Sportler:innen in Österreich mehr Anerkennung erfahren. Wir Athlet:innen sollten mehr Gewicht in dieser Gesellschaft erhalten. Ich werde das wohl in meiner Sportlerinnenkarriere nicht mehr erleben, aber ich würde es mir für die Jungen wünschen. Ich glaube, das ist mitunter ein Grund, wieso es zu wenig Nachwuchs im Leistungssport gibt.

 

 

Quellen und Informationen

Natalija Eder wurde am 6. August 1980 in Tichovolja in Belarus geboren. Im Kindesalter verlor sie aufgrund unbestimmter Ursachen den Großteil ihres Augenlichts. Heute wohnt die Bundesheer-Leistungssportlerin im steirischen Gröbming. In ihrer sportlichen Karriere erfüllte sie sich ihre Träume und gewann zahlreiche Medaillen: Bronze und Silber bei mehreren Weltmeisterschaften sowie Gold, Silber und Bronze bei Europameisterschaften.

 

2024 nahm sie zum dritten Mal an den Paralympischen Spielen teil und gewann 2012 in London, 2016 in Rio und 2024 in Paris jeweils Bronze im Speerwurf.

 

Foto Natalija Eder  ©ÖPC/Gepa-Pictures