Untertan von Solmaz Khorsand
Lemminge
Warum neigen Menschen dazu, Mitläufer:innen zu werden, Befehle auszuführen und sich in Gruppen so zu verhalten, dass sie möglichst nie aus der Reihe tanzen? Solmaz Khorsand geht in ihrem Buch *Untertan von braven und rebellischen Lemmingen* genau dieser Frage auf den Grund. Dabei beleuchtet sie unterschiedliche Aspekte, greift dafür Beispiele aus der Geschichte auf oder zieht Theorien aus Soziologie, Biologie oder Neurologie heran. Das hilft der Leserin oder dem Leser, ein Verständnis für die Thematik zu entwickeln, auch dann, wenn man sich selbst bisher nur wenig damit befasst hat.
Spurensuche
Zu Beginn steht die These: „Menschen können auf drei Arten überlegen:
Sie können sich anpassen.
Sie können sich wehren.
Und alles dazwischen.“
Khorsand befasst sich auch mit den Ausreden, die für das Nicht-Handeln, das Mitlaufen und Ausführen besonders herhalten müssen. Schnell wird klar: Wir haben sie wohl alle schon häufig gehört, manches Mal stillschweigend akzeptiert und einige davon selbst gebraucht. Denn das Phänomen ist ein nur allzu menschliches. Um welche Ausreden es geht?
– ich/er/sie hatte keine Wahl
– mir/ihr/ihm waren die Hände gebunden
– ich/er/sie habe gegen den eigenen Willen gehandelt
Hinschauen, wo es weh tut
Beeindruckend ist die Nähe, mit der uns Khorsand die kleinen Dinge im Alltag widerspiegelt, mit denen sie uns ertappt und uns peinlich berührt zurücklässt. Wenn ein unpassender Witz absichtlich überhört wird, wenn nicht für eine andere Person Partei ergriffen wird oder wenn, um in einer Gruppe dazuzugehören, jemand bloßgestellt wird. So zeigt sie, wie sehr uns das Thema der Lemminge, der Mitläufer:innen, alle betrifft. Nur wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir auch politisch Verantwortung übernehmen, so die simple und dennoch solide Idee dahinter.
Kollaborateur:innen der eigenen Unterdrückung? Kollektives Stockholmsyndrom?
Um sich und den Leser:innen begreiflich zu machen, was hinter dem Lemmingsein steckt, begibt sich Khorsand auf eine wissenschaftlich fundierte Suche nach Erklärungen für den Hang, mitzulaufen und sich unterzuordnen, statt aufzubegehren. Dafür wird die Gehorsamkeitstheorie ebenso wie die freiwillige Unterwerfung untersucht und mit Überlebensinstinkt, aber auch Selbstwirksamkeit des Individuums, in Verbindung gebracht. Mit der Figur des Passers wird ein weiteres Phänomen beschrieben, das eine Art Opportunismus beschreibt, der oft nur allzu gut nachvollziehbar scheint. Ebenso wird die menschliche Hemmschwelle untersucht, um damit Handlungen besser nachvollziehen zu können. Es wird aber auch darauf eingegangen, dass ein Nicht-Rebellieren nicht immer angekreidet werden kann und sollte, denn: Rebellion muss man sich leisten können! „Auch das, wie so vieles, ist eine Frage von Privilegien!“ (S.50) Finanziell, sozial und emotional – demnach gilt auch, Menschen nicht einfach vorschnell zu verurteilen, die sich nicht gegen eine Sache aufgelehnt haben.
Im Arbeitsdschungel
Auch das weite Feld der Arbeitswelt – ob Großraumbüro, Besprechungsraum oder Teambuildingmaßnahmen – wird in seinem Büro-Darwinismus unter die Lupe genommen. Wieso Organisationen es schaffen, dass sich Menschen in diesem Umfeld so brav unterordnen und welche Rolle dabei Hire & Fire Culture und Loyalität, aber auch die Verschmelzung von Arbeit und Freizeit spielen, wird dabei Schritt für Schritt herausgearbeitet. „Nur wer davon überzeugt ist, aus eigener Motivation im Hamsterrad zu laufen, läuft auch tatsächlich.“ (S.102)
Komplexität ist authentisch!
Wir alle spielen unterschiedliche Rollen im Alltag. Das ist völlig normal und für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig. „Nur weil man in einem Kontext revolutionär, gefügig, liebenswürdig, loyal, mutig, zurückhaltend oder aufbrausend ist, muss man das noch lange nicht in jedem Kontext sein!“ (S. 101) Schnelles Urteilen aufgrund einzelner Hinweise ist daher wenig förderlich.
Hinnehmen und kapitulieren? Sicher nicht.
Auch wenn vieles, das im Buch herausgearbeitet wird, nicht unbedingt Stolz hervorruft, lässt es dennoch keine negative Grundstimmung zurück. Es schafft einen guten Dreh ins positive und das ist motivierend. Statt zu resignieren, können wir etwa an unserer Fähigkeit alleine zu sein arbeiten, damit das Bedürfnis einer Gruppe anzugehören nicht das eigene Handeln bestimmt. Anders formuliert: Mehr Einsamkeitskompetenz statt Angst vor dem Alleinsein. Bewusstsein schaffen: Menschen, denen die Lemming-Falle bewusst ist, sind immer häufiger in der Lage, sie zu umgehen. Wir alle machen Fehler, wir alle können uns aber auch bessern.
Fazit
Klug, realitätsnah, schonungslos – wir wollen bitte mehr davon! Das Thema der Mitläuferschaft scheint in einer Gesellschaft, die durch mehrere Kriege und multiple weitere Krisen nicht mehr unerschütterlich scheint, besonders relevant. Auch wenn wir vielleicht alle einen Hang zum inneren Lemming haben: Das ist kein Grund, ihm nachzugeben. Deshalb: Immer dran denken – macht nicht alles, was euch gesagt oder gar befohlen wird, und schon gar nicht, ohne es zu hinterfragen! Das gelingt ihr dabei auf wunderbare Art und Weise, in kluger und lockerer Sprache, die einen das Buch nur für das Nötigste kurz aus der Hand legen lässt. VIEL SPASS BEIM LESEN
Geschrieben von: Claudia Schneider
Quelle:
Solmaz Khorsand: Untertan. Von braven und rebellischen Lemmingen, leykam Verlag, 2024
Instagram: solmaz.khorsand