Nachbericht “Prima Facie” 16.1.24



Content Note: Sexuelle Gewalt


Wir waren im Volkstheater und haben uns Suzie Millers preisgekrönten Monolog „Prima Facie“ mit Anna Rieser in der Hauptrolle unter der Regie von Laura N. Junghanns angesehen. Mit viel Stärke, Leidenschaft und Verletzlichkeit begeistert Anna Rieser als Hauptfigur Tessa an dem Soloabend in der Dunkelkammer. Bei einem Nachgespräch mit der Schauspielerin, dem Dramaturgen Ulf Frötzschner und Regie-Assistentin & Abendspielleitung Fanny Kölbl sprachen wir über den Umgang des Rechtssystems mit sexuellen Übergriffen, Lösungsansätze sowie die Frage, wie man eine gerechtere Gesellschaft schaffen kann.  







„Es gibt nur eine Wahrheit, und das ist die juristische“ 

 


Davon ist Tessa zu Beginn des Stücks überzeugt. Sie ist Strafverteidigerin und liebt es, zu gewinnen. Und sie vertritt Männer, die wegen sexueller Übergriffe vor Gericht stehen. Die Fälle werden ihr zugeordnet, also muss sie sie ja annehmen, oder? Jeder hat ein Recht auf Verteidigung, und sie tut nur ihre Pflicht. Das System gibt ihre Rolle vor und sie boxt die Männer von der Anklagebank frei. Muss sie doch, oder? Das System bildet den Rahmen, ein System, in dem die Unschuldsvermutung als unantastbar gilt. Das Urteil fällt ja ohnehin nicht sie, das machen Jury und Richter. Oder?  

Bei den Übergriffen in den Fällen ihrer Mandanten geht es nicht um das Stattfinden eines sexuellen Akts, sondern die Einvernehmlichkeit, den „Consent“i. Juristisch sind die Fälle eindeutig: Aussage gegen Aussage, vorgegangene einvernehmliche Handlungen, die beide Beteiligten zugeben, Alkoholeinfluss. Im Zweifel für den Angeklagten.  

Als Tessa einen sexuellen Übergriff erfährt, ändert sich ihre Perspektive und sie muss selbst erfahren, dass Recht und Gerechtigkeit nicht gleichzusetzen sind. Julian, der charmante Arbeitskollege aus gutem Haus, der in seiner Freizeit Pro-Bono Fälle macht, wird in einer nächtlichen Arbeitssession vom Office-Flirt zum Gspusi. Ein erstes Date folgt, und in einer stark alkoholisierten Nacht wird der einvernehmliche Sex zur Vergewaltigung.  

Unter Schock geht Tessa zur Polizei und zeigt den Übergriff an. Und sie zweifelt. An sich selbst und an ihrer Erinnerung. Macht sie das Richtige? Hat sie sich nicht genug gewehrt? War es überhaupt so schlimm? Vielleicht sogar ein Missverständnis? Doch sie kommt immer wieder zu dem Schluss: Die Wahrheit ist, dass Julian sie vergewaltigt hat. Sie muss nun mit den Konsequenzen leben, Abteilung wechseln, damit sie Julian nicht täglich sieht. Kolleg:innen meiden sie, stellen sich auf die Seite ihres Vergewaltigers. Im Laufe des Prozesses wird sie zur Zeugin der Anklage. Im Kreuzverhör muss sie diese Erfahrung nun von der anderen Seite erleben, erniedrigt von den Fragen des Staatsanwalts, der sie mit seinen Fragen bewusst in eine Falle lockt, so wie sie es unzählige Male an seiner Stelle getan hat. Am Ende die Ernüchterung: In einem Rechtssystem, das von Männern gemacht wurde, hat die weibliche Erfahrung sexualisierter Gewalt keinen Platz. Dass Julian freigesprochen wird, steht exemplarisch für tausende, auch nicht zur Anzeige gebrachten Übergriffe.  

 




 



Im Nachgespräch konnten wir mit Schauspielerin Anna Rieser, Regie-Assistentin und Abendspielleitung Fanny Kölbl und Dramatrug Ulf Frötzschner über die Rolle der Tessa, die Intimität der Inszenierung und die große Frage „Wie kann man etwas ändern?“ sprechen. Anna Rieser gab uns Einblicke in ihre Interpretation der Tessa. Wie fühlt es sich an, diese Rolle einzunehmen, und was sind damit einhergehende Herausforderungen? Wie reagiert das Publikum in den verschiedenen Aufführungen? 
 

 

Wir unterhielten uns über die Rolle des Theaters als Aufklärungsort und Lösungsansätze, wie ein Wandel von der „Rape Culture“ zur „Consent Culture“ erreicht werden kann (Hint: It starts and ends with the patriarchy). Die Zahlen in Österreich zeichnen ein trauriges Bild: 3 von 4 befragten Frauen geben an, bereits sexuell belästigt worden zu sein, fast jede dritte Frau hat sexuelle Gewalt erlebt, 7% eine Vergewaltigung, 9% berichten von versuchter Vergewaltigung. 98% der Täter sind männlich. Besonders stark sind Personen mit Behinderung betroffen: Jede zweite Person mit Behinderung hat sexuelle Gewalt erlebt. Die Dunkelziffer ist hoch, die Verurteilungsraten niedrig. Lediglich 9% der Frauen zeigten eine Vergewaltigung an, und nur in knapp über 10% der Fälle kam es zu einer Verurteilung.ii Vor allem der Beweis, dass der Täter einen Vorsatz hatte, das Opfer zu belästigen, ist oft schwierig. Bei Zeugen oder Videobeweisen ist eine Verurteilung wahrscheinlicher. Sachbeweise gibt es aber oft keine.iii Welche juristischen Möglichkeiten zur Veränderung es geben kann, hat Schweden vorgezeigt: Das 2018 implementierte „Consent“-Gesetz (Kein „Nein“ bedeutet nicht „Ja“) führte innerhalb von 2 Jahren zu einem 75-prozentigen Anstieg von Verurteilungen sexueller Übergriffe. Das Gesetz habe aber auch dazu beigetragen, dass vermehrt Diskussionen über das Prinzip „Consent“ in der Gesellschaft geführt werden und somit sexuelle Übergriffe eher als solche wahrgenommen werden.iv In Spanien gilt seit 2022 „Nur Ja heißt Ja“. Das Gesetz mit dem holprigen Start (durch eine Ungenauigkeit im Gesetzestext konnten zahlreiche bereits Verurteilte ihr Strafmaß vermindern) ermöglicht nun höhere Strafen bei sexuellen Übergriffen.
 

Jedenfalls tragen „Consent“-Gesetze dazu bei, dass eine gesellschaftliche Sensibilisierung stattfindet. Es ist ein Wandel gefragt, der gerade in der Gesellschaft passieren muss, ein Wandel der Werte. Oder um es in Tessas abschließenden Worten zu sagen: „Ich weiß nur, irgendwo. Irgendwann. Irgendwie. Irgendwas muss sich ändern.“ 

Der Nachbericht “Prima Facie” hat Dein Interesse geweckt und Du möchtest nächstes Mal beim Theaterbesuch dabei sein? Am 14. März gehen wir wieder ins Volkstheater und sehen und “MALINA” an. Melde Dich unter event@sorority.at zur Anmeldung.

 



 


Geschrieben von Marlene Fischer

Quellen & Infos 


24h Frauennotruf der Stadt Wien 

Telefon: + 43 1 71 71 9 - rund um die Uhr erreichbar, auch an Sonn- und Feiertagen 

Hilfe für Frauen und Mädchen bei Gewalt 

Kostenlos, vertraulich und auf Wunsch anonym 

Telefonische Beratung in Deutsch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Englisch, Farsi, Spanisch und Türkisch 

 

Österreichisches Institut für Familienforschung Umfrage Sexuelle Gewalt 2011

Der Standard Me Too und das Recht

The Local How Sweden’s new consent law led to a 75% rise in rape convictions

Consent einfach & für alle Altersstufen erklärt It’s as simple as tea