Warum sich marginalisierte Gruppen oft nicht willkommen fühlen
Wenn du den Raum betrittst, in dem über soziale Gerechtigkeit diskutiert wird, wer sitzt dort? Wer spricht? Und vielleicht noch wichtiger: Wer fehlt?
Linke Politik behauptet, für alle zu kämpfen – für Arbeiter:innen, für Migrant:innen, für die LGBTQIA+ Comunity, für Menschen, die täglich Rassismus erleben. Doch in vielen dieser Räume sind es meist weiße, akademisch gebildete Menschen, die das Sprechen haben. Diejenigen, die am stärksten von Ausbeutung und Diskriminierung betroffen sind, bleiben oft außen vor.
Es ist leicht, sich als antirassistisch oder progressiv zu bezeichnen. Schwieriger ist es, die unbequeme Wahrheit zu akzeptieren: Viele linke Szenen sind exklusive Blasen, in denen weiße, akademisch geprägte Perspektiven dominieren – und alle anderen außen vor bleiben.
Es reicht nicht aus, sich antirassistisch zu nennen oder auf Demos zu gehen, wenn in diesen Räumen systematisch Stimmen von Schwarzen Menschen, People of Color, migrantischen und indigenen Menschen überhört werden.
Die weiße Dominanz in linken Räumen
Das ist kein Zufall. Und es ist auch kein Missverständnis. Es ist ein Symptom eines tieferen Problems: Rassismus endet nicht an den Türen linker Räume – er verändert nur seine Form. Es zeigt, wie tief Rassismus in unserer Gesellschaft verankert ist, selbst in Kreisen, die sich als progressiv verstehen. Wenn die Linke besser konsequent für Freiheit, Gleichheit und Solidarität steht, dann muss sie sich fragen, warum sich so viele nicht-weiße Menschen in diesen Räumen nicht willkommen fühlen.
Wenn etwa auf einem Symposium über politische Theorien ständig Begriffe wie “postkoloniale Theorie”, “Dekonstruktion” oder “neoliberale Hegemonie” verwendet werden, haben die Teilnehmenden, die keine akademische Ausbildung in diesen spezifischen Bereichen haben, oft Schwierigkeiten, mitzuhalten. Diese Begriffe und Konzepte sind für viele Studierende oder Akademiker:innen selbstverständlich, doch für Menschen ohne diesen akademischen Hintergrund können sie isolierend wirken. Oft wird in solchen Räumen angenommen, dass nur diejenigen, die mit diesen theoretischen Modellen vertraut sind, kompetent über soziale Gerechtigkeit sprechen können. Das führt dazu, dass viele Menschen – insbesondere aus migrantischen, indigenen oder sozial benachteiligten Gruppen – sich ausgeschlossen fühlen, da sie keinen Zugang zu diesen spezifischen Bildungseinrichtungen oder Netzwerken hatten.
Dieser Elitarismus in linken Bewegungen stellt eine Barriere dar, die verhindert, dass wirklich alle Stimmen gehört werden. Diejenigen, die nicht über das “richtige” Vokabular verfügen oder die “richtigen” Theoretiker:innen zitieren können, werden schnell als weniger informiert abgestempelt. So wird die Diskussion über soziale Gerechtigkeit von einer relativ homogenen Gruppe geprägt, die sich vor allem aus weißen, akademisch geprägten Menschen zusammensetzt. Das führt dazu, dass marginalisierte Gruppen, die durch Rassismus, Klassismus oder Migrationserfahrungen strukturell benachteiligt sind, keinen Raum finden, um ihre Perspektiven einzubringen. In dieser Art von exklusiven “Blasen” bleibt ihre Erfahrung von Unterdrückung unsichtbar und wird oft als weniger wertvoll angesehen – obwohl sie oft die dringendste Erfahrung von sozialer Ungerechtigkeit haben.
Die Illusion der Unschuld – Warum weiße Linke Rassismus nicht erkennen
Viele weiße Menschen in linken Räumen verstehen Rassismus als etwas, das “da draußen” existiert – bei Rechten, bei Konservativen, bei der Polizei. Aber Rassismus ist nicht nur ein individuelles Vorurteil oder offener Hass. Rassismus ist ein System, das sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht – auch durch die Räume, die sich als antirassistisch oder progressiv bezeichnen.
Der Glaube, “auf der richtigen Seite” zu stehen, führt oft zu einer gefährlichen Form der Selbstgefälligkeit. Kritik an Rassismus innerhalb der eigenen Strukturen wird als Angriff auf die eigene moralische Integrität verstanden – und sofort abgewehrt. Aussagen wie:
- „Aber wir kämpfen doch für soziale Gerechtigkeit, wir können nicht rassistisch sein.”
- „Diese Kritik spaltet die Bewegung.”
- „Wir sind alle Opfer von Systemen der Unterdrückung, lass uns nicht gegeneinander kämpfen.”
- „Wenn du uns so kritisierst, treibst du die Leute zu den Rechten.”
Diese Reaktionen sind nicht nur defensiv – sie sind eine subtile Form der Machterhaltung. Sie verschieben die Verantwortung weg von denjenigen, die rassistische Strukturen aufrechterhalten, hin zu denjenigen, die sie benennen. Die Botschaft dahinter ist klar: Es ist wichtiger, dass weiße Menschen sich wohlfühlen, als dass marginalisierte Menschen gehört werden. Dieses Phänomen ist in der Forschung gut dokumentiert und als “White Fragility” bekannt. Der Begriff, geprägt von der Soziologin Robin DiAngelo, beschreibt die Abwehrreaktionen vieler weißer Menschen, wenn sie mit Rassismus oder ihrer eigenen Rolle in rassistischen Strukturen konfrontiert werden. Diese Reaktionen – wie Empörung, Abwehr oder Schuldumkehr – dienen letztlich dazu, die bestehende soziale Hierarchie zu stabilisieren und notwendige Gespräche über Rassismus zu unterbinden.
Performative Solidarität und die Abwehr von Kritik
Ein zentrales Problem in linken Bubbles ist die performative Solidarität. Viele Menschen zeigen sich antirassistisch, solange es einfach ist – solange es darum geht, einen Instagram-Post zu teilen oder auf einer Demo ein Schild hochzuhalten. Doch sobald Betroffene strukturellen Rassismus innerhalb der linken Szene ansprechen, schlägt die Solidarität schnell in Abwehr um.
Wer Rassismus in linken Kreisen kritisiert, wird oft beschuldigt, die Bewegung zu spalten oder die politische Arbeit zu schwächen. Diese Haltung verschiebt die Verantwortung: Nicht die rassistischen Strukturen sind das Problem, sondern diejenigen, die sie benennen.
Die Arbeiter:innenklasse und migrantische Perspektiven: Wer wird angesprochen?
Ein weiteres Problem ist die Entfremdung von großen Teilen der Arbeiter:innenklasse, insbesondere von migrantischen Gemeinschaften. Parteien der linken Bewegung sprechen oft eine urbane, akademische Elite an, die bestimmte Lebensrealitäten nicht nachvollziehen kann oder will.
Wenn politische Diskurse in einer Sprache geführt werden, die für viele Menschen unverständlich oder unzugänglich ist, dann schließt das automatisch diejenigen aus, die in prekären Verhältnissen leben und keine akademischen Ressourcen zur Verfügung haben. Diese Trennung verstärkt das Gefühl, dass linke Politik nicht für alle da ist – und das öffnet wiederum rechten Parteien, um sich als “Stimme des kleinen Mannes” zu inszenieren. Dabei finden diese Diskurse häufig nicht innerhalb der Lebensrealitäten der Arbeiter:innen statt, sondern in akademischen und medialen Räumen, die für viele unerreichbar oder abschreckend wirken.
Warum Intersektionalität keine Option, sondern eine Notwendigkeit ist
Intersektionalität – also die Verknüpfung verschiedener Formen von Unterdrückung – ist kein “nice-to-have” für linke Politik, sondern absolut notwendig, um echte gesellschaftliche Veränderung zu erreichen. Es reicht nicht aus, Rassismus und Klassismus als getrennte Probleme zu betrachten. Wir müssen anerkennen, dass Menschen in ihrer Lebensrealität mehrfach betroffen sein können – und dass diese Verschränkungen die Art und Weise beeinflussen, wie sie Unterdrückung erleben.
Linke Bewegungen, die Intersektionalität ignorieren, laufen Gefahr, die Machtstrukturen, die sie eigentlich bekämpfen wollen, selbst zu reproduzieren. Wenn Betroffene nicht ernst genommen oder ihre Stimmen systematisch verdrängt werden, dann bleibt die Bewegung letztlich eine Plattform für weiße Menschen, die sich in ihrer progressiven Identität wohlfühlen – ohne die tatsächlichen Ursachen von Ungleichheit zu bekämpfen.
Wie Veränderung aussehen könnte – Ein radikaler Perspektivwechsel
Wenn linke Bewegungen nicht zu exklusiven Clubs für weiße, gebildete Menschen werden wollen, dann müssen sie ihre Strukturen radikal hinterfragen. Es reicht nicht, Betroffene “einzuladen” oder “einzubeziehen” – es geht darum, Macht abzugeben.
Hier sind einige konkrete Schritte:
- Zuhören – wirklich zuhören: Wenn Menschen mit Rassismuserfahrungen über ihre Realität sprechen, ist es nicht die Aufgabe weißer Menschen, zu debattieren oder zu verteidigen. Zuhören heißt: Raum geben, Glauben schenken, Verantwortung übernehmen.
- Macht umverteilen: Betroffene müssen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden – nicht als symbolische Aushängeschilder, sondern mit echter politischer Gestaltungsmacht.
- Die eigene Rolle kritisch hinterfragen: Solidarität bedeutet nicht, für andere zu sprechen, sondern den eigenen Platz in rassistischen Strukturen zu erkennen – und aktiv daran zu arbeiten, ihn zu destabilisieren.
- Sprache und Zugänglichkeit überdenken: Linke Bewegungen müssen sich fragen: Wen erreichen wir – und wen nicht? Politische Forderungen müssen klar, verständlich und an den realen Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sein.
Die Zukunft gestalten – Jenseits weißer Selbstzufriedenheit
Die Zukunft linker Bewegungen hängt davon ab, inwieweit sie bereit sind, über sich selbst hinauszudenken. Solange sie in ihrer weißen Selbstzufriedenheit verharren, werden sie weder radikale Veränderung bewirken noch die Menschen erreichen, die am stärksten von Ungleichheit betroffen sind.
Aber Veränderung ist möglich – wenn weiße Linke bereit sind, echte Solidarität zu praktizieren. Und echte Solidarität bedeutet: Den eigenen Komfort aufzugeben, zuzuhören, Macht zu teilen – und nicht nur für Gerechtigkeit zu kämpfen, sondern auch bereit zu sein, die eigene Position in diesem Kampf grundlegend zu hinterfragen.
geschrieben von Ilayda Ari
Info und Quellen
Illustration © Vero Romero
Vielfalt Mediathek Critical Whiteness
Zeit Campus White Fragility – die meisten Weißen sehen nur expliziten Rassismus