Valerie Schmeiser im Interview
Der Club der müden Mütter – Warum es okay ist, überfordert zu sein
Muttersein ist eine Extremsituation – doch oft wird genau das verschwiegen. Kaum ein Thema wird so romantisiert und gleichzeitig so wenig ernst genommen wie Mutterschaft. Die Erwartungen an die Mutterrolle sind hoch: Frauen sollen arbeiten, aber auch präsent sein, sich um ihre Kinder kümmern, den Haushalt schmeißen und, wenn man ganz altmodisch ist, am besten dabei noch perfekt aussehen. Aber was wenn dieses Ideal kaum zu erreichen ist? Wenn die Realität chaotisch, überfordernd und einsam ist?
Valerie kennt dieses Gefühl gut. Sie ist Sozialarbeiterin und Supervisorin, Mitbegründerin der Praxisgemeinschaft CARE CLUB und Mutter von Emil, der mit Trisomie 21 geboren wurde. Mit ihrer Schwangerschaft änderte sich ihr Leben – und sie stellte schnell fest wie wenig Unterstützung es für Mütter gibt. Besonders für jene, die ein Kind mit Behinderung haben, oder keinen starken Rückhalt in Familie und Freundeskreis.
Deshalb gründete sie den “Club der müden Mütter” – einen Raum für Austausch, Ehrlichkeit und gegenseitige Unterstützung. Einen Ort, an dem Frauen sich nicht erklären oder beweisen müssen, sondern einfach sein dürfen. In unserem Gespräch erzählt sie, warum Mutterschaft oft eine Extremsituation ist, was sich gesellschaftlich ändern müsste und wie Frauen einander besser unterstützen können.
„Weil es keine zentrale Anlaufstelle gab” – Valeries Motivation, den Care Club zu gründen
Valerie, du bist Sozialarbeiterin, Supervisorin und führst zusammen mit deinem Mann die Praxisgemeinschaft CARE CLUB. Was war der Auslöser für die Gründung? Und was genau hat dir damals gefehlt?“
Valerie: Die Gründung des CARE CLUB ist tatsächlich aus einer sehr persönlichen Erfahrung entstanden – aus der Geburt meines Sohnes. Mein Mann ist Logopäde und war früher Kindergartenpädagoge, ich selbst habe lange in der Sozialarbeit gearbeitet. Doch irgendwann hatte ich das Gefühl, dass in der Sozialarbeit Menschen oft einfach „abgefertigt“ werden. Du hast eine begrenzte Zeit für unglaublich viele Themen, und oft bleibt keine Möglichkeit, auf die individuellen Bedürfnisse eines Menschen wirklich einzugehen.
Als unser Sohn Emil geboren wurde und das Down-Syndrom hatte, wurde mir klar, dass es in Wien keine zentrale Anlaufstelle gibt, an die sich Familien wenden können, um umfassend beraten zu werden. Es gibt viele Vereine und Institutionen, die sich mit einzelnen Aspekten beschäftigen, aber keine einzige Stelle, die alles abdeckt: psychosoziale Unterstützung, Sozialarbeit, Hilfe bei Anträgen für Kinder mit Behinderung – und das gilt auch für andere Familienfragen, sei es ein Schwangerschaftsabbruch, eine postnatale Depression oder andere Herausforderungen.
Genau da setzen wir an: Wir übernehmen die Recherche, begleiten Eltern durch diesen schwierigen Anfang und entlasten sie emotional. Denn in so einer Situation haben Eltern keine Kraft, sich auch noch alleine durch den bürokratischen Dschungel zu kämpfen.
„Ihr darf man sagen: Ich kann nicht mehr“ – Der ‚Club der müden Mütter‘ als Ort für ungeschönte Wahrheiten
Du hast auch eine ganz besondere Frauengruppe ins Leben gerufen – den „Club der müden Mütter“. Eine Gruppe für ehrlichen Austausch. Es scheint, als ob du damit einen ganz besonderen Nerv triffst. Wie kam es eigentlich dazu?
Valerie: Ich weiß es noch genau – es war Sommer 2023. Eine Freundin, die selbst Mutter ist und um die Ecke wohnt, rief mich morgens um 7 Uhr völlig verzweifelt an: „Mein Kind ist seit Stunden wach, ich bin fertig mit den Nerven. Seid ihr auch wach? Kann ich vorbeikommen?“ Und dann saßen wir da – auf dem Boden meines Wohnzimmers, im Nachthemd, ohne BH, mit ungekämmten Haaren und nicht geputzten Zähnen. Emotional und körperlich am Ende. Unsere Kinder haben beide jahrelang schlecht geschlafen. Mein Sohn ist jetzt dreieinhalb, und bis zu seinem dritten Lebensjahr gab es kaum eine Nacht, in der er nicht mindestens fünf mal wach war.
In diesem Moment wurde mir klar: Es kann nicht sein, dass Mütter wie wir keinen Ort haben, an dem sie aufgefangen werden. Und da war die Idee zum „Club der müden Mütter“ geboren.
Ein Jahr später, 2024, kam dann der erste Club mit zwölf Frauen zustande. Es geht nicht nur darum, Probleme zu besprechen, sondern auch darum, miteinander zu lachen und sich gegenseitig zu stärken. Seitdem leite ich die einzelnen Gruppen, die alle zwei Wochen stattfinden, gebe ihnen Struktur und halte den Raum – die Themen bringen die Mütter selbst mit.
“Schuldgefühle und Überforderung” – Warum wir Mutterschaft ehrlich und ohne Tabus ansprechen müssen
Welche Themen tauchen in euren Treffen besonders häufig auf?
Valerie: Es gibt Themen, die sich immer wiederholen:
Ein großes Thema ist, dass Mutterschaft nicht immer nur schön ist, sowie die damit verbundenen Schuldgefühle. Ein Thema, das Frauen lange nicht aussprechen durften. Es ist gesellschaftlich noch immer ein Tabu, zu sagen: „Ich liebe mein Kind – aber ich hasse es, Mutter zu sein.“ Dabei geht es oft nicht um das Kind an sich, sondern um die eigene Identität und die Erwartungen, die an Mütter gestellt werden. Dann gibt es das Thema Rollenverteilung in der Familie. Ich kenne einige Mütter, die arbeiten gehen, während die Väter zu Hause sind, weil sie für sich festgestellt haben: „Ich bin nicht die klassische Mama, die nur für das Kind da sein will.“ Diese „Vorgabe“, dass die Frau von Anfang an die Hauptbezugsperson ist, wird natürlich als unfair empfunden.
Für Mütter von Kindern mit Behinderungen ist oft Scham ein großes Thema. Viele haben Angst, dass ihre Kinder abgelehnt oder komisch angeschaut werden. Ich ermutige sie, ihre Kinder selbstbewusst in die Welt hinauszutragen, denn all diese Kinder sind großartig und die Mamas können wahnsinnig stolz auf sie sein.
Viele Frauen sprechen ungern über Überforderung oder postnatale Depression. Wie schaffst du es, dass sie sich bei euch öffnen?
Valerie: Ich muss da gar nicht viel tun. Es passiert von selbst. Wenn Frauen zusammenkommen und merken, dass niemand sie verurteilt, teilen sie ihre Erfahrungen. Aber auch, wenn jemand nicht darüber sprechen will – das ist völlig in Ordnung. Und wenn jemand lieber strickt, nur zuhört oder ein Nickerchen macht – auch das ist vollkommen okay. Es gibt absolut keinen Erwartungsdruck.
“Die Geburt einer neuen Vision von mir” – Wie Mutterschaft die eigene Identität herausfordert
Wie beeinflusst Mutterschaft die Identität und den Selbstwert von Frauen? Hattest du das Gefühl, deine Identität nach der Geburt verloren zu haben?
Valerie: Man weiß theoretisch, dass sich das Leben ändert, wenn man Mutter wird. Aber wie sehr – das kann man sich vorher nicht vorstellen. Ich glaube ehrlich gesagt, wenn man das vorher wüsste, würden viele sich gegen Kinder entscheiden. Mutterschaft fühlt sich an, als würdest du selbst noch einmal geboren werden – aber in eine Rolle, die zehnmal intensiver ist als alle anderen Rollen, die du vorher hattest. Du bist nicht mehr nur Partnerin, Tochter oder Arbeitnehmerin – du bist plötzlich Mutter. Und das ist eine Identität, die alles andere überlagert.
Am Anfang geht es nur ums Überleben: Essen, schlafen, mal kurz duschen – wenn das überhaupt klappt. Deine eigenen Ziele und Wünsche rücken in den Hintergrund. Und das ist hart. Ich versuche, es so zu sehen, dass ich nicht meine alte Identität verloren habe, sondern eine neue dazugewonnen habe. Aber es braucht Zeit, das zu akzeptieren.
„Frauen fallen aus dem Raster“ – Die gesellschaftlichen Hürden für Mütter
Was müsste sich gesellschaftlich ändern, damit Mütter besser unterstützt werden?
Valerie: Es fängt damit an, überhaupt zu definieren, was „Unterstützung“ bedeutet. Es geht nicht nur um nette Worte, sondern um Arbeitsplatzsicherung, finanzielle Absicherung und ausreichend Kinderbetreuungsplätze. Zu wenige Betreuungsplätze bedeutet für viele Frauen Jobverlust und finanzielle Unsicherheit. Noch härter trifft es Mütter von Kindern mit Behinderung. Die Angst, ein Kind mit speziellen Bedürfnissen nicht versorgen zu können, ist real – für manche ist das sogar ein Abtreibungsgrund. Weil sie nicht wissen, wo sie Unterstützung bekommen. Es fehlt an Wissen, und es gibt keinen Ort, an dem Frauen wirklich alle Informationen bekommen, die sie brauchen.
Ich sitze hier als Österreicherin, die perfekt Deutsch spricht, finanziell unabhängig ist und trotzdem war es für uns mit Emil am Anfang extrem schwierig – zeitlich, finanziell, organisatorisch. Wenn es uns schon so schwer fiel, kann man sich vorstellen, wie es Familien ohne großes soziales Netz oder mit Sprachbarrieren geht.
“Hör auf zu urteilen und bring Essen mit“ – Die besten Wege, Mütter zu unterstützen
Was können Frauen tun, um Mütter zu unterstützen und Solidarität zu zeigen?
Valerie: Es gibt tausend Möglichkeiten!
- Don’t judge! – Es hilft niemandem, wenn du als Nicht-Mutter starke Meinungen zu Müttern hast. Und es hilft genauso wenig, wenn Mütter andere Mütter bewerten.
- Fragen, wie man helfen kann. Statt ungefragte Ratschläge zu geben, einfach aktiv Unterstützung anbieten.
- Essen vorbeibringen. Klingt banal, aber eine frischgebackene Mutter braucht Kalorien. Viel Essen = viel Hilfe!
- Sich aufdrängen. Viele Frauen haben nie gelernt, Hilfe anzunehmen. Ich zwinge meine engen Freundinnen mit neuem Baby dazu, duschen zu gehen und mir ihr Kind für 10 Minuten zu überlassen. Und danach sind sie unendlich dankbar.
- Im Haushalt unterstützen. Nicht fragen, einfach machen! Frischgebackene Mütter werden oft aus Reflex „Nein, danke“ sagen – aber wenn eine Freundin ohne viel Aufhebens vorbeikommt und die Wohnung aufräumt, ist das die größte Erleichterung.
Frauen sind es nicht gewohnt, um Hilfe zu bitten – nicht, weil sie sich schämen, sondern weil sie oft gar nicht wissen, dass sie es dürfen. Also: Aufdrängen – aber liebevoll. Und wenn dennoch ein “Nein, danke” kommt, akzeptieren.
Was gibt dir selbst in deinem Alltag als Mama und Gründerin Kraft?
Valerie: Zwei Dinge: Die Resonanz auf den Club. Dass sich immer mehr Frauen vernetzen, dass wir mit Ärzt:innen und Sozialarbeiter:innen zusammenarbeiten, dass unsere Workshops gut ankommen – das zeigt mir, dass wir gebraucht werden. Und ganz ehrlich, Schlaf! (lacht) Schlaf ist das Größte!
Vielen Dank, Valerie, für die spannenden Einblicke und das inspirierende Gespräch. Wenn du den Leserinnen von Sorority einen Rat oder eine Botschaft mitgeben könntest, was wäre das?
Valerie: Lasst euch nichts gefallen!
Der Club der müden Mütter wächst. Im September startet ein neuer Müde-Mütter-Club, in der sich Mütter regelmäßig treffen und austauschen können. Im Juni leitet Valerie ein 3-Tage-Retreat für müde Mütter im Burgenland – hier können Mamas bewusst aus ihrem Alltag (ganz ohne Kind) aussteigen, andere tolle Frauen kennenlernen und neue Kraft schöpfen. Zusätzlich gibt es Workshops zu Themen wie “Verhalten von Kindern mit Behinderung verstehen” oder “Ernährung bei Neurodiversität”. Wenn du mehr dazu erfahren möchtest, schau gern vorbei auf Careclub.at.