Evelyn Höllrigl
Buchrezension – Mythos Mutterinstinkt
Evelyn Höllrigl Tschaikner und Annika Rösler greifen in ihrem Buch ein hochaktuelles Thema auf, das tief in den Vorstellungen unserer patriarchal geprägten Gesellschaft verankert ist: den Mythos des sogenannten „Mutterinstinkts“. Sie stellen sich die Frage, ob es einen biologisch angelegten, universellen Mutterinstinkt gibt, oder ob es sich dabei vielmehr um ein gesellschaftliches Konstrukt handelt, das Frauen in eine bestimmte Rolle drängt.
Kleiner Spoiler vorab: natürlich haben die beiden Autorinnen es geschafft, anhand unzähliger Beispiele aus der modernen Hirnforschung darzulegen, dass es den Mutterinstinkt nicht gibt. Und das ist ein großer Grund zum Jubeln, weil es letztendlich bedeutet, dass wir uns von dem überhöhten Bild der perfekten Mutter lösen und Elternschaft neu denken können.
Von der Erfindung der Übermutter …
Das Buch “Mythos Mutterinstinkt ist 2023 im Kösel-Verlag in München erschienen und gliedert sich inhaltlich in drei Teile. In HIStory zeigen die Autorinnen anhand eines historischen Abrisses des Mutterbildes, woher die Vorstellung eines angeborenen Instinkts zur Mutterschaft kommt, und wie dieser über die vielen Jahrhunderte in verschiedenen Kulturen geformt wurde. Evelyn Höllrigl Tschaikner und Annika Rösler argumentieren, dass es keinen universellen, naturgegeben Mutterinstinkt gibt, sondern dass Mutterschaft eine erlernte Fähigkeit ist, die stark von gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen geprägt ist (und wird).
… zur wissenschaftlichen Erkenntnis, dass wir nicht einfach Mütter sind, sondern Mütter werden
Im zweiten Teil – HERstory – zeigen die Autorinnen anhand vieler Beispiele aus der Hirnforschung auf, welchen Einfluss Schwangerschaft, Geburt und Care-Arbeit auf das Hirn der Mutter (sowie im Vergleich auch auf das Hirn von Vätern und anderen Bezugspersonen) hat. Es ist befreiend zu lesen, dass die körperlichen Merkmale der Mutter, die letztendlich die Grundvoraussetzung für Schwangerschaft und Geburt sind, nicht automatisch zu einem Mutterinstinkt führen. Vielmehr demonstrieren Höllrigl Tschaikner und Rössler, dass die Mutterität, also das Werden zur Mutter, ein Entwicklungsprozess ist, der mitunter nicht so einfach ist, ähnlich der Pubertät.
„Wir sind keine Mütter. Wir werden es. Und das darf dauern. “ – Evelyn Höllrigl
Matreszenz, also das Erwachen einer Mutter, als Entwicklungsphase kann – und das ist biologisch nachgewiesen – über Jahre andauern, und ist nicht nach 9 Monaten und der Geburt des Kindes abgeschlossen.
Das ist ein ungemein wichtiges Argument, um Müttern Raum zu geben sowie Überforderung eingestehen oder aber auch Hilfe einfordern zu können. Auch ermöglicht es Müttern, die eigene Mutterschaft individuell ausleben zu können, fernab gesellschaftlicher Konventionen.
Trotz all dieser Argumente ist dieses Buch aber keine Streitschrift gegen Männer, da diese ebenfalls als Leidtragende der stereotypen Rollenverteilung einer patriarchalen Gesellschaft gesehen werden. Umso interessanter ist, dass Väter – wenn sie offen und involviert in der Sorgearbeit ihrer Kinder sind – ähnliche Hirnveränderungen aufweisen wie Mütter. Kurzum: Elternkompetenz erlernt man durch Learning By Doing, und nicht durch das angeborene Geschlecht oder einen mütterlichen Instinkt.
„Der Verweis auf die unterschiedliche Natur von Mann und Frau dient noch immer als die mächtigste Erklärung für geschlechterbasierte Rollenverteilung. “ – Evelyn Höllrigl
Elternschaft neu denken
Das zu wissen und zu verinnerlichen ist ein wichtiger Schritt, denn gerade in der emotionalen Zeit der Schwangerschaft und Geburt (sowie der Zeit danach) werden wir mit ideologischen Glaubenssätzen, gutgemeinten Ratschlägen und vielleicht auch internalisierten Vorurteilen besonders häufig konfrontiert. Mit dem Wissen um die Konstruktion des Mythos Mutterinstinkt haben wir aber auch die Chance, von tradierten Rollenbildern loszulassen und Väter und andere Bezugspersonen in die Mammutaufgabe Sorgearbeit miteinzubeziehen. Anstatt bedingungsloser und aufopfernder Liebe der Mütter braucht es auch ein Bekenntnis der Väter, für ihre Kinder und Familie da zu sein. Im dritten Teil des Buches – OURstory, geht es darum Ideen zu entwickeln wie mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaft Familie gleichberechtigt gelebt werden kann. Natürlich muss sich dafür auch in unserer Gesellschaft noch einiges ändern, aber dass wir alle den Mythos Mutterinstinkt hinterfragen und uns davon lösen, ist wohl ein wichtiger, erster Schritt.
Fazit
Dieses Buch ist eine erhellende und längst überfällige Lektüre für alle, die sich mit den tief verankerten Erwartungen an Frauen und Mütter kritisch auseinandersetzen wollen. Das Buch entzaubert das Ideal des „natürlichen Mutterinstinkts“ und zeigt auf, dass Mutterschaft kein universeller Automatismus ist, sondern stark von sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst wird. Die Autorinnen liefern eine differenzierte, wissenschaftlich fundierte Perspektive von Mutterschaft und Weiblichkeit ab sowie eine gute Anleitung, patriarchale Strukturen unserer Gesellschaft zu hinterfragen.
Für mich selbst hätte ich mir gewünscht, dass es dieses Buch schon gegeben hätte, bevor ich Mutter geworden bin. Aber selbst im Nachhinein bin ich dankbar für die Validierung, die ich und meine Mutterschaft auf beinahe jeder Seite erfahren haben, weil ich mich eben nicht permanent für meine Kinder aufopfere, meine Zeit in der Erwerbsarbeit schätze oder Me-Time einplane.
geschrieben von Carina Gastelsberger
Info und Quellen
Foto Myriam Frank
Instagram Evelyn Höllrigl Little Paper Plane
Buch Evelyn Höllrigl, Mythos Mutterinstinkt, Kösel Verlag, 2023
Sichere dir jetzt dein Ticket beim Feministival
Wann? // 08.11. um 15:00
Wo? // Feministival Main Stage