*Triggerwarnung: Suizid, Psychische Erkrankungen

 

 

Beatrice Frasl, Kulturwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin ist vielen von uns wohl
vor allem aufgrund ihres Podcasts “Große Töchter”, in dem geschlechterspezifische und
gesellschafts-politische Fragen bearbeitet werden, bekannt.

Nun hat sie ein wichtiges Buch über mentale Gesundheit geschrieben und geht darin den Zusammenhängen zwischen Patriarchat und psychischen Erkrankungen auf den Grund. Sie fokussiert dabei besonders die Erfahrungen von Frauen, die durch unbezahlte Care-Arbeit, Mangel an ökonomischer Sicherheit und als Betroffene von psychischer und physischer Gewalt nachweislich häufiger von Depressionen oder Angsterkrankungen betroffen sind und thematisiert den Mangel an Behandlungsmöglichkeiten. Eingeleitet wird mit den aussagekräftigen, wahren Worten:

“Wir sind alle Betroffene. Aber manche sind betroffener.”

Die WHO bezifferte die Zahl der an Depressionen erkrankten Menschen im Jahr 2019 (also vor Ausbruch der COVID-Pandemie) mit weltweit 322 Millionen. Und allein in der EU sterben jedes Jahr rund 58.000 Menschen an Suizid – mehr Tote als durch Morde und Verkehrsunfälle zusammen. Und auch wenn diese Zahlen weiter steigen, bleibt die damit verbundene Ausgrenzung der betroffenen Personen gleich. Im Gegenteil: psychologische Hilfe ist nicht nur teuer, sondern für – insbesondere akut – Betroffene schwer zugänglich, wie Frasl mit Hilfe von anschaulichen Beispielen aufzeigt.

Und ob eine Person im Laufe ihres Lebens psychisch erkrankt, hängt laut Frasl “in hohem Maße davon ab, ob du ein Mann oder eine Frau bist. Und davon, in welchen (…) Verhältnissen du lebst.”

Wie Geschlecht, Klasse und Psyche zusammenhängen

Auf knapp 400 Seiten beleuchtet die Autorin, wie geschlechtsspezifische und sozioökonomische Faktoren Ausbruch, Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen beeinflussen. Fundiert kritisiert sie neoliberale Gesellschaftssysteme, in denen soziale Ungleichheit und Armut zu erhöhten psychischen Belastungen führen. Denn Armut bedeutet für Betroffene nicht nur Dauerstress aufgrund von existenziellen Ängsten. Armut führt auch zum Gefühl des Ausgeschlossen sein, denn in unserer Gesellschaft prägt vor allem der Status im Vergleich zu anderen die eigene Gesundheit.

Wir sind auch nicht überrascht, dass das Patriarchat eine wesentliche Ursache für psychische Erkrankungen ist; nicht nur, weil Frauen nach wie vor tendenziell häufiger von materieller Armut betroffen sind. Mehrfachbelastungen durch Care-Arbeit, erhöhter Stress durch ein rigides Schönheits- und Schlankheitsideal, und ein viel geringeres Sicherheitsgefühl (bzw. das statistisch viel höheres Risiko, Opfer eines gewalttätigen Übergriffs zu werden), machen psychische Erkrankungen für Frauen noch wahrscheinlicher. Erschwerend kommt für Frauen hinzu, dass Psychiatrie eine sehr sexistische Geschichte mit sich bringt.  So wurden Frauen, die gegen patriarchale Verhältnisse aufbegehrten, als verrückte Hysterikerinnen weggesperrt und mit gewaltsamen Mitteln “behandelt”. Und bis heute werden Frauen sowohl bei psychischen als auch physischen Erkrankungen weniger ernst genommen als Männer, und erhalten folglich oft zu spät Zugänge zu notwendigen Behandlungen.

Wissenschaftlich, einprägsam und nachvollziehbar – vor allem für höher gebildete, weiße cis Frauen.  

Der Kolumnistin Frasl gelingt es in ihrem Buch, dank einer spannenden Mischung aus  wissenschaftlichen Studien, persönlichen Anekdoten und einprägsamen Darstellungen nachvollziehbar zu argumentieren, warum wir einen Systemwandel brauchen. Und sie bietet als Abschluss bereits einige – wohl nicht allzu utopische – Lösungsansätze für Entscheidungsträger:innen an.

Ein großer Wermutstropfen ist die nicht gelungene inklusive Sprache und – wie bereits in der Einleitung erwähnt – daraus resultierende einseitige Perspektive des Buches. Bereits im Vorwort erklärt Frasl, warum sie sich bewusst für das generische Femininum entschieden hat: Dies meine schließlich auch Männer mit. Mit dieser Argumentation schließt sie allerdings auch nicht-binäre Personen ohne Erklärung aus, obwohl diese vom Patriarchat mindestens ebenso schwer, wenn nicht sogar schwerer diskriminiert werden.

Außerdem ist ihr sprachlicher Ausdruck stark von ihrer akademischen Arbeit geprägt. Für die Zielgruppe “Entscheidungsträger:innen” bzw. “Gebildete Feminist:innen” ist dies natürlich kein Problem. Die hohe Fremdwortdichte könnte allerdings dazu führen, dass wichtige Argumente von Leser:innen mit anderem Bildungsniveau nicht ausreichend verstanden werden.

Eine unbedingte Leseempfehlung fällt uns aus diesen Gründen ein wenig schwer. Ihre Argumente und Perspektiven zu Missständen in Bezug auf psychische Erkrankungen sind absolut hilfreich, weil nachvollziehbar. Ein feministisches Meisterwerk ist ihr mit diesem Buch allerdings nicht gelungen. Auch Inklusion und der Blickwinkel mehrfach diskriminierter Personen lassen vermissen.

 

Geschrieben von Monika Dauterive 

 

Ein Auszug an Hilfsangeboten in Österreich:

  • Telefonseelsorge 142 | www.telefonseelsorge.at 
  • Rat auf Draht: 147
  • Notfallpsychologischer Dienst:  +43 699 1885 5400
  • Kindernotruf:  +43 800 567 567 | kindernotruf@kindernotruf.at
  • Mädchentelefon:  +43 800 211 317
  • Frauenhelpline: +43 800 222 555
  • Männernotruf: +43 800 246 247
  • Drogenhotline: +43 810 208 877
  • Suizidprävention: www.suizid-praevention.gv.at 
  • Suizidhinterbliebene und verwaiste Eltern: +43 664 533 6044 | www.verwaisteeltern.at